Podcast “Wieder was gelernt”: Russland gehen die jungen Männer verloren

Die russische Bevölkerung schrumpft und altert seit Jahren. Durch den Krieg in der Ukraine verschärft sich die Situation: Für Putin mag der demografische Wandel einer der Gründe sein, warum er überhaupt in das Nachbarland einmarschiert ist.

Als Russland im Februar in die Ukraine einmarschierte, sagte der russische Präsident Wladimir Putin, er wolle das Land entnazifizieren. Aber er hätte auch einen ganz anderen Grund haben können. Nämlich, um die Bevölkerung Russlands zu “vermehren”.

Das Land befindet sich in einem demografischen Niedergang. Die russische Bevölkerung schrumpft seit Jahren. Ein Trend, der durch den Krieg in der Ukraine verstärkt wurde: Allein im ersten Halbjahr verlor das Land 480.000 Menschen. Nach Angaben des russischen Statistikamtes Rosstat ist die Einwohnerzahl auf 146,1 Millionen gesunken. Auch die Prognosen sehen nicht gut aus. Die russische Bevölkerung wird in den nächsten 28 Jahren – bis 2050 – auf 130 bis 140 Millionen Einwohner schrumpfen.

Der Historiker Timothy Snyder von der Yale University schreibt im Magazin Foreign Affairs, Putin sei besessen von Demografie. Er befürchtet, dass seine Rasse in der Unterzahl ist. Der französische Demograf Laurent Chalard sagt, Putin glaube, dass die Macht eines Landes von der Größe seiner Bevölkerung abhängt: Je größer die Bevölkerung, desto mächtiger der Staat. Und auch die Science and Politics Foundation analysiert, dass das Ziel der russischen Innenpolitik darin besteht, mit Zuwanderung dem natürlichen Bevölkerungsrückgang entgegenzuwirken.

Kriegsrelevante Generation dezimiert

Die russische Bevölkerung ist bereits alt und sehr weiblich. Es gibt deutlich mehr Frauen als Männer, nur etwa 46 Prozent der Menschen in Russland sind Männer. Das Durchschnittsalter beträgt 38,8 Jahre. Zum Vergleich: Das Durchschnittsalter liegt weltweit bei 30 Jahren, in den EU-Staaten sogar bei 44 Jahren.

Dass es in Russland so wenige junge Menschen gibt, hat etwas mit dem Zweiten Weltkrieg zu tun, erklärt der Politikwissenschaftler Alexander Libman, Professor am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin, im ntv-Podcast „Neu gelernt“. “In den 1940er Jahren waren die Verluste unter Zivilisten, aber auch unter Soldaten enorm. Unmittelbar durch den Krieg, aber auch durch Hunger, schlechte Ernährung und Krankheiten. Man spricht vom Echo des Krieges.”

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Die 1990er Jahre waren auch für Russland entscheidend. Die Sowjetunion brach zusammen und die Wirtschaft brach zusammen. Diese Zeit sei „ein extremer Schock für die russische Bevölkerung“, sagt Alexander Libman. Die Menschen hätten alles verloren. Todesraten und Alkoholkonsum sind gestiegen. Die Folge sei ein “massiver Rückgang der Geburtenrate”. “Die jetzt für den Krieg relevante Generation war aufgrund der Kombination dieser beiden demografischen Ereignisse sehr klein.”

Bodenkrieg braucht junge Männer

Hinzu kommt die demografische Entwicklung, die seit dem Zweiten Weltkrieg auch in anderen Industrieländern, darunter Deutschland, zu beobachten ist. Die Gesellschaft altert. Die Menschen leben länger, Frauen machen Karriere und bekommen später weniger Kinder.

Normalerweise sei das kein Problem, erklärt der Politologe. „Jetzt führt Russland einen konventionellen Bodenkrieg. Genau wie im 19. und 20. Jahrhundert. Für solche Kriege braucht man viele junge Männer. Und das in einer Gesellschaft wie der Russlands – genauso wie der Deutschlands, Frankreichs, Amerikas oder Australiens.“ – es gibt strukturell zu wenig junge Männer, weil generell wenig Kinder geboren werden.”

Russland ist auch eines der wichtigsten Einwanderungsländer der Welt. Im Jahr 2020 lebten mehr als 11 Millionen Migranten im Land. Die meisten von ihnen stammen aus ehemaligen Sowjetrepubliken wie Tadschikistan, Kasachstan, Armenien und der Ukraine. Russland ist aus wirtschaftlichen Gründen auf Zuwanderung angewiesen. Doch die Zuwanderungsraten sinken – auch als Folge des Krieges in der Ukraine.

An der Front kaum Überlebenschance

Journalisten der russischen Zeitung „Nowaja Gazeta“ haben ausgerechnet, dass Russland langfristig mehr als zehn Prozent der jungen Männer durch den Krieg verloren gehen könnten. Die vom russischen Präsidenten Wladimir Putin im September angekündigte Teilmobilisierung habe dazu einen großen Einfluss gehabt, sagt Alexander Libman. Mindestens 200.000 Mann wurden bereits einberufen.

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“Ein Großteil dieser Menschen wird den Krieg dort nicht überleben oder sehr schwer verletzt nach Hause kommen, weil wir einen Krieg mit massivem Artillerieeinsatz haben.” Die Wahrscheinlichkeit, an der Front verletzt oder getötet zu werden, liegt laut Ökonom Oleg Itskhoki bei 60 bis 70 Prozent.

Wer nicht kämpfen will, flieht ins Ausland. Vor allem junge Männer versuchen, die Grenze zu überqueren. Mindestens 700.000 Russen scheinen vor der Teilmobilisierung geflohen zu sein. Zudem sind seit Beginn des Krieges in der Ukraine Hunderttausende aus Russland ausgewandert. Im ersten Halbjahr waren es 419.000, sagt die russische Statistikbehörde. Fluchtgründe gibt es viele: Politische Gegner gehen ins Exil. Junge Fachkräfte suchen Jobs in anderen Ländern. Zehntausende wohlhabende Russen verlassen das Land.

Alexander Libman schätzt, dass bisher etwa eine Million Menschen aus dem Land geflohen sind. Einige würden zurückkehren, aber die vermissten Männer würden in ein paar Jahren wieder nicken. “Durch die Krise werden noch weniger Menschen geboren. Dass Soldaten an der Front stehen, wird in 10 bis 20 Jahren zu einer verlorenen Kohorte führen.”

Die „Qualität des Humankapitals“ wird abnehmen

Der Osteuropa-Experte schätzt, dass dies weniger dramatisch ist, als es sich anhört. Denn Russland ist ein rohstoffreiches Land. Dieser könnte mit einer kleinen Population eigentlich ganz gut überleben. Er sieht jedoch ein ganz anderes Problem: „Wir werden sehen, dass die Qualität des Humankapitals enorm sinkt. Und das liegt daran, dass vor allem die Gebildeten das Land verlassen werden.

Der massive Braindrain könnte ein Fiasko für die russische Wirtschaft werden. Ein „brain drain“, der Russland langfristig schwächen könnte. Nach der Teilmobilisierung Ende September hat die russische Wirtschaft bereits deutlich an Schwung verloren. Und die russische Zentralbank erwartet, dass sie in diesem Jahr noch weiter schrumpfen wird.

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Zudem werden Produktivität und Kaufkraft zurückgehen. Vieles werde nicht mehr konsumiert, erklärt Alexander Libman. Die Teilmobilmachung habe einen “deutlich negativen” Effekt auf die russische Wirtschaft: “Unter dem Strich wird die Mobilisierung Russland deutlich mehr kosten als alle Sanktionen, die der Westen durchsetzen kann.”

Russische Frauen können Männer ersetzen

Eine Reihe großer russischer Unternehmen setzen sich bereits dafür ein, dass ihre Mitarbeiter nicht als Soldaten an die Front müssen, berichtet der Politikwissenschaftler Sebastian Hoppe von der Freien Universität Berlin: „Aktuell beobachten wir, wie russische Unternehmen Lobbyarbeit betreiben, um den Staat zu rechtfertigen, warum ihre Mitarbeiter nicht einberufen werden sollten, etwa weil sie im Energiesektor oder in der Verteidigungsindustrie wichtig sind.“

Wenn es immer weniger junge Männer gibt, können russische Frauen die Lücke füllen. Und helfen in den Berufen, die ihnen heute noch verboten sind. Um die Geburtenrate in Russland zu erhöhen, wurde 1974 ein Gesetz erlassen, das Frauen schwere körperliche Arbeit verbietet. Sie sollten Kinder haben. Bis heute sind 100 Berufe für russische Frauen verboten. Du darfst – zumindest offiziell – nicht Feuerwehrmann werden, U-Bahnen bauen oder schweißen. Dies könnte sich nun ändern.

So wie in der russischen Armee: Aufgrund des Mangels an männlichen Rekruten öffnete Russland in den 1990er Jahren seine Armee für Frauen. Insgesamt arbeiten mittlerweile 44.000 Frauen beim Militär – als Berufssoldatinnen. Mittlerweile werden sie dort offenbar auch zu Piloten ausgebildet – ein Beruf, der Frauen bis vor kurzem ebenfalls verboten war.

Wo finde ich “Wieder etwas gelernt”?

Alle Folgen von „Wieder was Lern“ kannst du in der ntv App hören und überall dort, wo es Podcasts gibt: Audio Now, Amazon Music, Apple Podcasts, Google Podcasts und Spotify. Mit dem RSS-Feed auch in anderen Apps.

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