Viele Wissenschaftler haben es verlernt, ihre Position kritisch zu reflektieren

Dieser Text ist Teil der Reihe „Corona-Debatte“. Alle Texte finden Sie hier.

„Die Technische Universität Graz setzt sich aktiv für Vielfalt und Chancengleichheit ein. Bei der Personalauswahl dürfen Personen nicht aufgrund des Geschlechts, der ethischen Zugehörigkeit, der Religion oder Weltanschauung, des Alters oder der sexuellen Orientierung benachteiligt werden (Antidiskriminierung).

[…]

„Als Hochschule ist uns der Schutz der Gesundheit unserer Studierenden und Beschäftigten sehr wichtig. Aus diesem Grund werden Bewerberinnen und Bewerber mit nachgewiesener Vollimpfung gegen Covid-19 bei gleicher Berufsqualifikation bevorzugt.“ Technische Universität Graz, Online-Bewerbungsportal.

wissenschaftlicher Glaube

Ein Aspekt, der meiner Meinung nach auch in der sehr wichtigen Corona-Diskussion in der Berliner Zeitung vernachlässigt wurde, ist folgender: Grundsätzlich fehlt es in Deutschland, wie auch in Österreich, an einer fundierten Reflexion darüber, wie wir über reden Wissenschaft. , was für ein naives Bild von Wissenschaft wir oft in der Öffentlichkeit hören und wie Forschung vor allem mit der Sphäre von Politik und Macht verbunden ist. Und was in unseren Universitäten und anderen akademischen Einrichtungen passiert. Oder es passiert einfach nicht (mehr).

Während insbesondere die 1960er bis 1980er Jahre in öffentlichen Debatten oft von begründeter Wissenschaftsskepsis und Technikkritik geprägt waren – was mit den dunklen Machenschaften der unterschiedlichsten Wissenschaftsdisziplinen in der ersten Hälfte des 20 ist zunehmend zu einer reaktivierten Ideologie geworden, die man als Szientismus bezeichnen kann.

Es ist die absolute Einstellung von Wissenschaft und Technik, der Glaube an „diese“ Wissenschaft, die Behauptung ihrer Objektivität, als müsste man Zahlen und Daten überhaupt nicht interpretieren, als gäbe es einen absoluten Punkt, von dem aus Wissenschaft funktioniert. Ein naiver Fortschrittsglaube, wie er sich bereits in der Zeit der Erfindungen und der aufkommenden Industrialisierung etablierte; er war wieder da und hat sich immer erweitert und gefestigt. Durch den Materialismus, durch den „Rationalismus von Recht und Ordnung“ und durch den weit verbreiteten Gebrauch von Maschinen- und Computermetaphern für das Leben, den Körper und menschliche Aktivitäten.

Zum Autor

Jan David Zimmermann, Jahrgang 1988, ist Schriftsteller, Journalist und Forscher. Er studierte Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst in Wien und Germanistik, Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftsphilosophie an der Universität Wien. Zimmermann ist seit ca. 10 Jahren (mit Unterbrechungen) in Literatur, Kunst und Wissenschaft tätig. 2022 erschienen seine Novelle „Den Schatten im Rücken“ (Sisyfos-Verlag) und der Gedichtband „Das Licht sucht die Dunkelheit“ (Verlag ars vobiscum). Ab 2021/22 erscheinen regelmäßig journalistische Beiträge auf seinem Blog „Megamaschine“ und auch Radiobeiträge auf Kontrafunk – Hlas rozumu. Zimmermann ist außerdem Autor und Herausgeber der neu gegründeten Zeitschrift Stichpunkt. www.jandavidzimmermann.com

Wer entscheidet, wer weiß?

Mit Corona erreichte dieses Denken seinen Höhepunkt. Heute gab es plötzlich kein Lobbying mehr, keine Experimente mehr, keine Frankenstein-Forschung mehr. All das lag in der Vergangenheit weit hinter uns. „Vertraue der Wissenschaft“ und „Follow the Science“ waren nur zwei der vielen Schlagworte, die deutlich machten, dass wir den „Experten“ vertrauen, aber nicht alles überdenken sollten. “Sie werden wissen”, ja, “sie werden nach bestem Wissen und Gewissen handeln”. Und abweichende Meinungen sind sowieso Verschwörungstheorien, also sollte man sich damit gar nicht erst beschäftigen. Ein geradezu anti-aufklärerischer Ansatz, der Expertenokratie vor Demokratie stellt. Wer “nichts weiß”, sollte die Klappe halten. Die Frage ist: Wer entscheidet, wer weiß? Jan Böhmermann? Sascha Lobo?

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Jedenfalls kann im Sinne dieses Wissenschaftsbildes nur die Wissenschaft die Probleme der Welt lösen. Krankheiten und Pandemien, das Klimaproblem, die Frage der fossilen Brennstoffe: Alles sollte mit wissenschaftlichen und technischen Produkten gelöst werden. Große internationale Konzerne und das Silicon Valley zögerten, zu gehen und ihre transhumanistischen Hände zu ringen.

Corona-Expertokratie: Gute Priester und Ketzer

Wissenschaft erscheint im Szientismus als Heilslehre, und die Experten sind letztlich unsere Priester. Wer aber den Priester befragt, befragt auch Gott. Und natürlich sollte es nicht sein.

Man sah auch daran, wie plötzlich alle an jedem Wort der Experten hängen. Der Verfasser dieser Zeilen spitzte die Ohren, als immer deutlicher wurde, dass all jene Forscher, die sich exzessiv und unverhältnismäßig für Impfungen, Schließungen, Masken etc. aussprachen, allesamt Menschen waren, die noch mitten im Wissenschaftssystem standen . , oft auf dem Höhepunkt ihrer Karriere und sitzen in staatlichen Beratungsgremien. Offenbar hatten diese Akteure auch Verbindungen zu Pharmaunternehmen oder waren in seltsame wissenschaftliche Machenschaften verwickelt. Gerade die Medien hätten an dieser Stelle bei der Forschungsförderung nüchtern sein müssen. In vielen Fällen ist dies nicht geschehen.

Andererseits waren die kritischen Expertenstimmen fast alle emeritierte (dh pensionierte) Universitätsprofessoren oder „Aussteiger“ aus dem Wissenschaftssystem und mittlerweile weitgehend unabhängig von Universitäten, Pharmakonzernen und wissenschaftspolitischen Schützengräben und Machtkämpfen. Man mag naiv fragen, wer ist weniger selbstbewusst?

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Kritik etablierter Lehren

Wenn jedoch kritische Stimmen aus dem bestehenden System selbst zu hören waren, wurden sie oft unterdrückt, unterdrückt, unterdrückt, verunglimpft. Leider ist dies auch wissenschaftsgeschichtlich nichts Neues; Die Figuren des Ketzers, Häretikers und der Hexe wurden im Laufe der Jahrhunderte immer wieder neu aufgegriffen.

Genau genommen war dies immer dann der Fall, wenn orthodoxes Wissen kritisiert und in Frage gestellt wurde, dh wenn das vorherrschende Wissen in Frage gestellt wurde. Aber als Gesellschaft wollen wir nicht verstehen, dass echter wissenschaftlicher Fortschritt nur so funktionieren kann: durch innovative Kritik an gängigen Lehrmeinungen (Paradigmen). Die Wissenschaftsgeschichte ist voll von Außenseitern, die die Wissenschaft revolutioniert haben, indem sie nicht in Begriffen von institutionalisierter Wissenschaft dachten.

Wo bleibt die Debattenkultur an den Hochschulen?

Corona hat einmal mehr deutlich gemacht, wie willfährig die akademischen Einrichtungen mit den Forderungen von Staat und Politik im Einklang stehen und wie viel Konformität und Zwang in Universitäten und Akademien herrschen. Der oft beschworene offene und kritische Diskurs an Universitäten hat es einmal gegeben, heute ist er nur noch ein Schatten seiner selbst. Das ist eigentlich ein Aspekt, der kaum diskutiert wird: Was an unseren Universitäten passiert, welches Denken durch den Bologna-Prozess, ECTS-Punkte, strenge Curricula, vermeintliche Exzellenzcluster und die wahnsinnige Anhäufung von Drittmitteln erzwungen wird ?

Darauf möchte ich kurz antworten: Oft werden „Trivialmaschinen“ gemacht, wie der Wissenschaftsphilosoph Heinz von Förster einmal mit Blick auf das gesamte Bildungssystem gesagt hat. Triviale Maschinen sind Maschinen, deren Output weitgehend dem Input entspricht. Das bedeutet, dass nicht eigenständiges Denken gefördert wird, sondern das Wiederholen von Inhalten, das formelhafte Schreiben von Texten nach vorgefertigten Schemata und dergleichen.

Unsichere Beschäftigung, Überspringen von Projekten, Kettenverträge

Das Problem ist, dass zwar viel über Wissenschaft geredet wird, es aber oft nicht mehr um Wissenschaft geht. Bei Universitäten geht es um Strukturen, formale Kriterien, zeitnahe Berichte und vor allem um eine Reihe von Funktionen; als Leiter in diesem oder jenem Projekt, kooptierter Forscher, Beiratsmitglied, Arbeitsgruppenmitglied etc.

Universitäten sind zu Verwaltungseinheiten von Strukturen und Funktionen geworden, und Hochschullehrer sind Verwalter von Finanzen und Ressourcen. Der Inhalt ist irrelevant. Das Thema Gendering, Political Correctness, Transtoiletten und Antidiskriminierungsstellen ist selbst angesichts des einleitenden Zitats der TU Graz ein Witz. Denn Antidiskriminierung geschieht fast ausschließlich über identitätspolitisches Brot und Spiele, bei denen sich die Studierendenvertretung austoben kann wie Kinder auf einem Plüschspielplatz. An den strukturellen Problemen der Universität ändert sich nichts. Prekäre Arbeitsverhältnisse, Projekthopping, Kettenverträge gibt es noch, aber Hauptsache mit mehr als fünfzehn Pronomen und 72 Geschlechtern.

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Wissenschaft im Dienste der Herrscher

Und als ob dieser neoliberale Bologneser Geist (der auch intellektuelle Ausweidung ist) nicht schon schlimm genug wäre, gibt es jetzt eine weitere Entwicklung, bei der Karrieren auf politischem Aktivismus, Meinungsbildung und Verurteilung aufbauen. Gefügige Wissenschaftler agieren als Gehilfen der Herrschenden und leisten Legitimationsarbeit für den Obrigkeitsstaat.

Protagonisten wie Armin Nassehi, Heinz Bude, Oliver Nachtwey, Caroline Amlinger oder Florian Aigner und Nataschsa Strobl in Österreich agieren als politisch orientierte Verwalter des einseitigen Regierungsnarrativs. Es darf keine Grauschattierungen oder Schattierungen geben, jede Kritik an Maßnahmen ist libertär-autoritär, jede Skepsis automatisch wissenschaftsfeindlich, und breite Kontextualisierungen oder die Frage nach Netzwerken und Lobbyismus sind ausschließlich Verschwörungsglauben. So war es bei Corona, aber so ist es auch bei anderen Themen. Die Wissenschaft unterstützt hegemoniales Denken.

Wenn wir uns durch Corona hindurcharbeiten wollen, dann müssen wir auch über dieses wissenschaftliche Bild sprechen, das uns hier den Weg geebnet hat. Weil wir keine Priester brauchen, die uns sagen, wie die Dinge sind. Wir brauchen mündige Bürgerinnen und Bürger und wir brauchen Forscherinnen und Forscher, die über ihre eigene Position nachdenken, sich differenziert und offen mit ihrem Forschungsgegenstand auseinandersetzen und gegebenenfalls Vorurteile offen legen. Letztlich bedarf es aber nicht mehr als einer zweiten Klärung. Diesmal wird die Wissenschaft wie die Religion, der Szientismus, auf die Probe gestellt.

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